Das
Phänomen des "Neo-Tarantismus"
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Es
sind nunmehr fast vierzig Jahre verstrichen, seitdem der Ethnologe
Ernesto de Martino mit seiner Expertenmannschaft nach dem Salento
(ungefähr die Region um Lecce) fuhr, um die archaischen Fälle
von Trance zu untersuchen, die später unter dem Namen Tarantismus
bekannt wurden, und die dort wie auch in anderen Regionen Süditaliens
überlebt hatten. In den 70er Jahren fand eine umfassende Wiederentdeckung
der traditionellen Musik statt, im Rahmen einer allgemeinen
Aufwertung der Volkskultur. Damals waren fast ausschließlich
politische Gründe ausschlaggebend, denn die Volksmusik wurde
als eine klare Ausdrucksform einer Gegenkultur oder einer Kultur
der Unterdrückten angesehen. Diese Strömungen mündeten gegen
Ende der 90er Jahre in Süditalien in einer umfassenden Bewegung,
die als Gegenbewegung zur kulturellen Nivellierung und Globalisierung
verstanden werden will und auf der Suche nach kulturellen Wurzeln
und nach eigener Identität ist. Ältere Künstler aus der Folkszene
der 70er Jahre und jüngere Künstler mit Erfahrungen in der elektronischen
Musik machten sich dann gleichzeitig und manchmal auch unabhängig
voneinander auf den Weg mit dem Ziel, Musik und Tanz der Tarantella
wiederzuentdecken und aufzuwerten und so in die breite Öffentlichkeit
zu bringen. Betont wird dabei lokale kulturelle Identität, so
dass die Tarantella mittlerweile sogar als lokales Vorzeigephänomen
gilt.
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Ursprünglich
waren es Heiltanzrituale, um diejenigen (meist Frauen) zu heilen,
die angeblich von der Tarantel gebissen worden waren. Lange
Zeit wurden diese Rituale verschämt im Verborgenen der Häuser
und der Familien praktiziert oder sogar verschwiegen. Heute
werden die Riten nicht nur von Wissenschaftlern sondern auch
von Künstlern, Musikern, DJs und Veranstaltern aufmerksam beobachtet.
Massen von jungen und auch von weniger jungen Menschen in Italien
machen sich auf die Suche nach den Trancezuständen und dem angeblichen
Seelenheil, das sie sich vom hektischen Tanz der Tarantella
und der Pizzica versprechen. Eine Suche nach dem Archaischen
und nach kollektiven Ekstase-Erlebnissen, wie man sie auch in
der Technoszene findet. Dieses Phänomen hat so viel Aufsehen
erregt, dass sich im Februar 2001 Ethnologen, Soziologen und
Musiker aus ganz Europa in Rom zu einer Tagung getroffen haben,
die den Titel "Tarantismo e neo Tarantismo" trug. Unter anderem
wurde im Laufe der Tagung auch darüber berichtet, dass dieses
Phänomen sogar in nordeuropäischen Städte wie Berlin Einzug
gehalten hat, und zwar mit den Tarantella Trance Partys von
DJ Don Francisc¹!
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Foto:
Saba Laudanna e Liana di Pietro
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